Früher hätte ich behauptet, dass wir jetzt „mitten in der Natur“ wohnen. Unsere Gäste sagen das heute noch. Doch mir ist das Gefühl für das Wort „Natur“ abhandengekommen – für mich ist mindestens Westeuropa, bis auf wenige Regionen, ein großer Park. Abgesehen davon ist der menschgemachte Klimawandel auch das Ende aller Bauernregeln oder anderer Weisheiten, die voraussagen, was „Mutter Natur“ so zu tun und zu lassen pflegt. Göttin ist tot, wir müssen selber die Verantwortung übernehmen.
Unser Grundstück hat keinen englischen Rasen, die Bäume sind nicht in symmetrische Formen frisiert, wir sperren nicht einmal die Wild- und Stachelschweine aus, obwohl die einen tiefe Löcher baggern und die anderen Blumenzwiebeln ausgraben und verputzen.
Die Hälfte der Obstbäume waren tot, als wir ankamen. Möglich, dass die Wildschweine schuld sind, die sich an ihnen reiben und dabei die Borke abhobeln. Danach werden sie ein Opfer der Borkenkäfer, so unsere Diagnose, denn die Stämme sind voller tiefer Löcher mit einem Durchmesser von einem Zentimeter.
Den ursprünglichen Traum, den Großteil des Geländes wieder verwildern zu lassen, haben wir aufgegeben. Es stellte sich heraus, dass die Wildnis sich durch Verwendung von Brombeeren, Ackerwinde, Hartriegel, Efeu und wildem Spargel Zugang verschafft. Fünf Pflanzen, mehr nicht.
Die Brombeeren machen das Gelände unzulänglich und der Efeu erwürgt die Bäume. In dem Teilgelände, das früher zum Bauernhof gehörte und verwildert, seitdem das Haus vor 150 Jahren verlassen wurde, wachsen die Eichen nur zu Büschen. Bevor sie zwei Meter Höhe erreichen, werden sie ein Opfer der Schlingpflanzen. Harmloser ist der wilde Spargel, der in der Botanik offiziell „stechend“ genannt wird, was ihn schmerzhaft treffend umschreibt.
Ein anderes Problem heißt auf Latein und Italienisch Ailanthus, im Deutschen mit dem schönen Namen „Götterbaum“ geehrt. Dieses Gewächs, dass sich unterirdisch verbreitet, produziert überall kleine Bäume, die im Jahr bis zu zwei Meter wachsen und so viel Grün produzieren, dass alles unter ihnen an Lichtmangel eingeht.
Alles an diesem „Baum der Götter“ ist mehr oder weniger giftig oder allergen, er produziert Blüten, die von allen Insekten ignoriert werden; Misteln, Efeu oder Wein wagen sich nicht in seine Nähe und sogar die Ackerwinde, die normalerweise sogar Maschendraht für einen Teil des natürlichen Umfelds hält, macht um ihn einen großen Bogen. Die Schnittflächen riechen bitter, das Holz brennt zu schnell und der Rauch ist giftig.
Er kann aber nichts dafür, dass er so ist, wie er ist – er ist einfach kein Einheimischer. So wie wir. 1856 wurde er mit seinem Schädling, dem Götterbaumspinner, nach Turin verschleppt, weil ein cleverer Geschäftsmann die Idee hatte, dass man so viel schneller und billiger Seide herstellen könnte als mit den „richtigen“ Seidenraupen.
40 Plantagen entstanden in Turin, Paris und Wien, aber nach 20 Jahren war es niemandem gelungen, etwas, das den Namen „Seide“ verdient hätte, aus den Kokons der falschen Spinner herzustellen. In freier Wildbahn starben die Schmetterlinge schnell aus, der Ailanthus aber nicht. In ganz Italien gilt er als Plage, aber auch in Wien droht er die Parks zu übernehmen. Dort haben alle Methoden der Eindämmung oder Bekämpfung bisher nichts genutzt, seit fünf Jahren setzt man einen speziell gezüchteten Pilz ein, auf den nur der Götterbaum allergisch reagiert. Das Problem ist, dass man ihn händisch in jede Pflanze injizieren muss. Wir schneiden lieber drei Mal im Jahr alle Triebe ab.
Wir haben also unser Los angenommen und kämpfen gegen Brombeeren, Efeu, Ackerwinde, Ailanthus und gegen den Pieks-Spargel, um all die anderen Pflanzen, die wir außerdem vorgefunden haben, überleben zu lassen. Das schließt auch die Oliven ein, die zwar robust und gut angepasst sind, von denen aber trotzdem Leichen auf dem Gelände belegen, dass Efeu am Ende gewinnt.
Wir sind also Killer. Wir killen Pflanzen, die wir nicht wollen. Ich bin nicht gerne Terminator, aber meist ist das mein Job und ich habe mir spezielle Waffen zur Vernichtung gekauft. Das Terminieren geht meist mit Gestank und Krach einher und bedarf Zweizylinder, die man als wie tödliche Sägen, Hacken oder Scheren einsetzt.
Im Gegenzug kultivieren wir die Pflanzen, die wir für nützlich halten. Das ist der Job von Frau Anders und ich beneide sie heimlich darum. „Nützlich“ meint nicht nur, dass die Pflanzen uns gefallen oder dass wir sie essen können, obwohl Letzteres ein sehr triftiger Pluspunkt ist. Nützlich soll es auch sein für die, die wir früher Mutter Natur genannt haben und die es alleine nicht mehr schafft mit der Unordnung, die wir Menschen angerichtet haben. Es soll mehr Arten geben als fünf, so haben wir sie verstanden. Das Ergebnis ist aber ein Park.
Weil wir Sauerklee, Lavendel, Rosmarin, Lorbeer, Jasmin, Thymian, Calendula, Oleander, Wisteria, Cistus, Geißblatt, Schlehdorn, Myrte, Feigen, Malve, Johanniskraut, Holunder oder unsere Blumen schützen, blüht fast das ganze Jahr etwas in unserem Garten und es gibt mehr Sorten Schwebfliegen, Rosenkäfer, Schmetterlinge, Bienen, Marienkäfer oder andere Insekten – reden wir nicht über Erdflöhe – als ich in Bobingen oder Holzkirchen jemals gesehen habe.
Da gibt es zum Beispiel schwarze Fellbälle mit blau schimmernden Flügeln. Beim Fliegen machen sie ein Geräusch, das gleichermaßen gemütlich und bedrohlich ist. Es ist ein Gemisch aus Hornisse, Helikopter und dem Knattern, das wir als Kinder erzielt haben, indem wir Spielkarten mit Wäscheklammern in die Speichen der Fahrradfelgen geklemmt haben.
„Calabrone“, also Hornissen, meinte unser Nachbar. Wir ordneten sie aber den Hummeln zu, „Bombi“. Die erstaunliche Wahrheit ist, dass es sich um Bienen handelt. Unsoziale Bienen, die gegen jede Königin rebellieren würden und lieber alleine, weitab aller Imker, leben. Sie sind Einsiedler. Wie wir.
„Holzbienen“ heißen sie auf Deutsch und sie gehören zur Familie der „echten“ Bienen, wie ihre Cousininnen, die Hummeln. Oder die Schlürfbienen, Glanzbienen, Kraftbienen, Trauerbienen oder Fleckenbienen.
Gefährlich sind sie nicht, sie lassen sich sogar streicheln. Selbst getestet. Sie sind wichtige Bestäuber in unserem Garten, vor allem die Wisteria braucht sie. Die Weibchen bohren mit ihren Mandibeln fünf Zentimeter tiefe Gänge und im Anschluss an diese Hausflure die großzügigen Kinderzimmer ins Totholz. Der Durchmesser der Bohrlöcher ist ein Zentimeter.
Es waren nicht die Borkenkäfer, die unsere Obstbäume auf dem Gewissen haben, sondern wahrscheinlich trifft die Schuld alleine die Wildschweine. Die toten Obstbäume werden wir nun doch nicht zu Brennholz verarbeiten, sondern stehen lassen. Das sind ja die Geburtskliniken für die Holzbienen, die unsere Wisteria braucht, nachdem wir sie von ihrem Erzfeind Brombeere befreit haben.
Ach, die, die wir früher Mutter Natur genannt haben, ist groß und vielfältig. Und komplex. Wilder Pieksspargel, nur ein Beispiel, ist lecker.
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