Prolog: Der Vättersee ist in Schweden nur die Nummer zwei, aber trotzdem riesengroß – der Bodensee hätte darin beinahe vier Mal Platz. Er liegt hauptsächlich in Småland, dem berühmtesten Teil Schwedens, bekannt für seine Butter, seine Kartoffeln, Michel aus Lönneberga und die Kinder, die gerne von dort abgeholt werden wollen, wenn sie bei IKEA keine Lust mehr auf Bällchen und Disneyfilme haben.
Am südlichsten Ende des Vättersees liegt die Stadt Jönköping mit ihrem Ortsteil Huskvarna. Richtig, da kommt die Firma her, die mittlerweile Rasenmäher und Kettensägen baut und nicht mehr Gewehre – die Geschichte wird noch ein Urteil zu fällen haben, was den größeren Schaden angerichtet hat.
In diesem Ortsteil arbeitet ein Fotograf mit dem sehr schwedischen Namen Patrik Svendborg. Seinen Arbeitsweg hat er so gewählt, dass er am Ufer des Vättersees vorbeiradeln kann. Eines Morgens, im Mai 2013, bleibt er unterwegs stehen und fotografiert eine Bruchweide. Der Baum besteht aus acht Stämmen, die in den Frühling ragen, das Maigrün des Laubs zögert noch. Kein Wind weht, der See ruht, am Himmel keine Wolke – Patrik fühlt die Ruhe, die hinter allen Dingen wohnt und drückt ab.
Das Bild ist nicht sehr gut. Es ist nicht einmal gut. Geschossen wurde es mit einem halbkaputten iPhone 4, man sieht deutlich einen schwarzen Fleck, die Linse war verschmutzt. Patrik stellt das Foto auf Instagram. Am nächsten Tag traut er seinen Augen kaum, so viel Aufmerksamkeit hat es bekommen. Atemberaubende 43 Likes!
Bäume sind alte Symbole, Archetypen, Urbilder unserer Seele. Ein Baum, der alleine in einer großen Landschaft steht, ist ein Bild, das wir alle kennen.
Wenn man von religiösen Darstellungen absieht – zum Beispiel von Yggdrasil, dem Lebensbaum – dann dürfte Caspar David Friedrich der Erste gewesen sein, der einen Baum zum Hauptdarsteller in einem Bild gemacht hat. Das Werk heißt selbsterklärend „Der einsame Baum“ und entstand vor genau 200 Jahren.
Wir sehen in der Bildmitte eine riesige Eiche vor einem Tümpel. Eine Wolke verschattet den Vordergrund. Dahinter, im Sonnenschein, glänzt ein weiterer Teich im Licht. Im Hintergrund wachsen Hügel zu mächtigen Bergen.
Der Stamm der Eiche ist trutzig, ein Schäfer lehnt sich an. Doch der Wipfel des alten Baums ist beschädigt. Es mag ein Blitz gewesen sein oder die Last seiner eigenen Äste – jetzt strecken sich nur noch dürre Stümpfe in die Luft, wo einmal die Krone im Wind wehte. Doch auch die Ästchen tragen wieder Blätter.
Der Baum ist ein verletzter Held, die Einsamkeit hat ihn beschädigt. Doch noch gibt er nicht auf, noch hält er an der vergangenen Größe fest.
Bei Caspar David Friedrich identifizieren wir uns mit der alten Eiche. Ein romantisches Bild, ein trauriges Bild, aber eben doch nicht ohne Hoffnung.
Patriks Baum ist auch der Held in seinem Bild. Seine Nachbarn, links und rechts an der Uferpromenade sehen wir nicht, auch für uns wirkt der Baum wie ein Einzelgänger. Wegen des Erfolgs auf Instagram macht Patrik noch ein Foto von der Bruchweide. Ab jetzt hat er seine gute Kamera dabei und wir sehen bald Bilder mit einem Hochzeitspaar, mit einer Joggerin oder mit Möwen, die hinter den Blättern im Wind segeln.
Im November stellt er ein Foto ein, dass er in den späten Abendstunden geschossen hat. Die letzten Sonnenstrahlen führen in der Bewölkung ein Drama auf, der Baum ist nur ein Schattenriss. Wir sehen einen alten Mann, der seine Hand auf einen der Stämme legt. Ein Novemberbild, beinahe ein Schwarzweiß-Foto. 107 Menschen klicken das Bild an, neuer Rekord.
Ein Kollege Patriks mit dem schönen Namen Patric – mit ‚C‘ statt mit ‚K‘ – sieht Abzüge der Bilder im Büro und meint: „Schöner Baum. Schaut wie ein Brokkoli aus. Ist das ein ‚Broccoliträdet‘?“. Auf englisch übersetzt wäre das „Broccoli Tree“ und so heißt ab jetzt der neue Instagram-Account, nur für den Baum und seine Fans.
Patrik – der mit dem ‚K‘ – macht seine Bilder an der Uferpromenade zum Mittelpunkt seiner kreativen Arbeit. Alle paar Tage erscheint ein neuer Upload. Die Qualität der Fotos steigt sprunghaft an und damit auch die Anzahl der Follower und der Likes.
Frühling, Sommer, Herbst und Winter; in Stürmen, im Regen, im Schnee und bei Sonnenschein; mit Urlaubern, Hunden, Kindern, Spaziergängern oder ohne menschliche Gesellschaft – Patrik dokumentiert den Baum.
Natürlich ändert das die Botschaft seiner Arbeit. War auf dem ersten Bild noch der Brokkolibaum die Hauptfigur, so wird er jetzt durch die Wiederholung für uns Betrachter mehr ein Begleiter, ein treuer Freund. Jedes Mal, wenn seine Fans auf Instagram sind, prüfen sie in ihrem Feed, wie es ihm wohl geht.
Die Fotos handeln nicht mehr von Caspar David Friedrichs einsamen Baum, mit dem wir uns identifizieren, sie handeln vom Leben, das um ihn herum stattfindet. Und dieses Leben ist dem Leben ähnlich, das auch um uns herum stattfindet. Der Brokkolibaum erzählt uns jetzt eine Geschichte von uns selber.
Bald hat er Tausende von Freunden und Freundinnen. Patrik veranstaltet im August 2015 eine Ausstellung, nur mit seinen Arbeiten rund um diese eine, besondere Bruchweide – um den Baum, der durch seine Fotos berühmt geworden ist. Eine Open-Air-Ausstellung, natürlich im Schatten des Brokkolibaums, dokumentiert als neuer Upload des Instagram-Accounts.
Ausdrucke seiner Arbeiten verkaufen sich weltweit, Menschen in Feuerland, Botswana, Neu-Guinea oder in der Mongolei kaufen Poster mit der Bruchweide und hängen sie in ihren Heimen auf. Im Sommer 2016 hat der Baum seinen eigenen Eintrag auf Google Maps und die ersten Touristen reisen nach Jönköping, um ihren pflanzlichen Freund zu besuchen. Wir sehen auf Instagram nun Menschen, die sich vor dem Brokkolibaum fotografieren, genau in dem Moment, als auch Patrik auf den Auslöser drückt.
Langsam, aber stetig wächst die Gefolgschaft auf Instagram. 30.000 Follower des Kanals, dreitausend Likes per Motiv. Der Brokkolibaumkalender 2017 verkauft sich prima und es sind noch keine Nachahmer aufgetaucht, die die Fotos auf Instagram stehlen, um selber vom Ruhm zu profitieren.
Am 27. September 2017 fährt Patrik wieder die Promenade entlang, um ein Bild zu schießen, doch irgendetwas stimmt nicht. Irgendetwas hat sich an der Silhouette geändert. Einer der Stämme wurde über Nacht durchgesägt. Nicht komplett, noch hält er sich tapfer und auch den Blättern ist keine Veränderung anzusehen. Doch deren Lebenszeit ist jetzt so lang wie die von Schnittblumen. Dieser Stamm ist verloren.
Wir haben nicht die Mittel, einen Baum so zu verarzten wie einen Menschen. Hier hilft keine Pflanzensaftspende, kein Rindenkorsett und kein Holztransplantat. Ein durchgesägter Baum ist tot.
Die Stadtverwaltung schickt Gärtner, um den Schaden zu begrenzen. Doch die entdecken, dass jeder der acht Hauptstämme an der einen oder anderen Stelle angesägt wurde. Es gibt keinen Rat. Eine Woche nach der Entdeckung des Attentats stehen an der Stelle, wo der vielleicht berühmteste Baum des Internets stand, acht abgesägte Stümpfe. Mehr nicht.
Die Leere auf den Fotos, wo einst Äste, Zweige und Blätter lebten, ist drückend. Der nackte Himmel schämt sich und der See schaut betroffen in seine Untiefen.
Die Wahrheit der Geschichte vom Brokkolibaum ist diese: Er ist tot.
Wir wissen nicht, wer den Baum getötet hat. War es ein Täter, vielleicht mit einer Motorsäge der Firma Husqvarna in der Hand? War es eine Gruppe Jugendlicher, die dabei gelacht haben und sich mit High Fives für ihre Tat gefeiert haben? Oder ein Fotografenkollege, der Patrik den Erfolg geneidet hat?
Wir wissen nicht, wer den Baum getötet hat. Es ging ihnen vielleicht um Macht – Zerstörung ist auch Empowerment. Vielleicht ging es auch um Identität. Wenn man nicht weiß, wer man ist, dann definiert man sich über das, was man nicht mag. Passiert uns, wenn wir die Kindheit verlassen und manche Menschen verlassen diese Entwicklungsstufe nicht.
Es ist egal. Der Baum ist tot. Es ist traurig.
Da war dieser Baum und das Internet und Menschen, die ihn geliebt haben, die etwas geteilt haben, rund um die Welt. Und wie immer, wenn viele Menschen etwas teilen, das sie lieben, fühlen sich andere davon angezogen und hassen das Geliebte mit gleicher Leidenschaft.
Es stellt sich die Frage, ob es nicht besser gewesen wäre, hätte Patrik niemals das Foto von diesem einen, zufällig ausgewählten Baum auf seiner Arbeitsroute gemacht. Dann würde die Bruchweide heute noch stehen und die Menschen könnten sie bewundern. Da wäre noch Schatten für die Hochzeitspaare und die spielenden Kinder im Sommer, Äste auf denen die Vögel Nester bauen könnten und Trost für den alten Mann, der sich in der Novembernacht anlehnen will.
Doch der Brokkolibaum stand gar nicht in Jonköping. Er war nicht mehr nur für die Menschen da, die dort lebten. Sein Schatten und sein Trost hatten in alle Winkel der Welt gereicht, auch wenn es nur digital auf den Servern von Instagram war und ist. Die Bilder können wir noch immer betrachten, auch wenn sie kein Gegenstück mehr in unserer Welt haben.
Das Paradox an der Liebe ist, dass sie uns verletzlich macht. Alles, was wir lieben, kann uns wieder aus dem Herzen gerissen werden. Aus dem Hochzeitsversprechen wird ein Scheidungskrieg, unsere Helden und Heldinnen scheitern an der Welt, auf jeden Sommer folgt ein Winter.
Wir erkaufen uns die Liebe mit unserer Bereitschaft zu leiden. Je mehr wir von uns herzugeben bereit sind, desto mehr lieben wir. Und trotzdem: Alles wird uns genommen, auf den Sommer folgt der Winter, auf das Leben folgt der Tod.
Wäre es also besser, Patrik hätte den Brokkolibaum nie fotografiert?
Nein. Selbst, wenn wir das Geliebte in einer Kammer unseres Herzens vor der Außenwelt verschließen, wird es uns genommen werden. Wir haben es dann nur nicht geteilt mit der Welt. Aus Eigensinn. Ein Fehler. Ein Fehler, denn nun müssen wir auch den Verlust, den Schmerz und die Trauer alleine tragen. Uns bleibt nur eine Erinnerung, aber teilen können wir sie nicht mehr.
Es ist besser, dass Patrik seine Welt mit uns geteilt hat. Uns den Baum gezeigt hat. Es ist eben nicht besser, dass nichts entstünde, wie Mephisto in Goethes ‚Faust‘ glaubt. Es ist am unvermeidlichen Ende besser, geliebt zu haben.
Wir sind Menschen. Wir sind bereit. Wir verstehen den Handel.
Epilog: Auf Google Maps kann man immer noch den „Broccoli Tree“ suchen. Wenn man dann auf die Fotos klickt, die einem angeboten werden und ein bisschen Geduld hat, dann stößt man auf eine Reihe von Bildern, die ein Schwede mit dem Namen Michael Good im Sommer gemacht hat.
Überall aus den alten acht Stämmen grünen neue Zweige. Der Brokkolibaum ist jetzt wieder ein kleiner Busch, vielleicht zwei Meter hoch. Ich denke, wenn wir geduldig weiter seinem Account auf Instagram folgen, wird Patrik früher oder später wieder ein neues Foto hochladen. Wetten?
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