52,97 Kilometer von unserem Haus entfernt, steht in Trevi ein Olivenbaum, der sehr alt und tot aussieht, wenn die Stürme im Herbst ihm alle Blätter abreißen. Irgendwann wurde er in der Mitte gespalten und nun kann ein Erwachsener durch ihn hindurch spazieren. Jedes Frühjahr treiben neue Blätter aus und jedes Jahr im Spätherbst hängen kleine, harte, grasgrüne Oliven an seinen Zweigen. Jedes Jahr. Die Olive des heiligen Emiliano, der hier – von Kaiser Diokletian an diesen Baum gefesselt – den Märtyrertod starb.
Dieser Baum ist öfter vermessen, bestrahlt, katalogisiert und gezeichnet worden als jeder andere in Umbrien. Daher wissen wir, dass er nicht 2.000 Jahre alt ist, wie es heißt, sondern nur bescheidene eintausendsiebenhundert-quetsch Jahre. Alt, aber mit Emiliano dürfte es knapp werden – es sei denn, man hat ihn an einen Keimling gebunden. Besonders sadistisch. Römer. Heiden.
Der Heiligenbaum und seine Oliven sind Vorfahren der heutigen Sorte Moraiola, die für Umbrien seit Jahrhunderten typisch ist – die genetischen Unterschiede spielen sich tief in den Nachkommastellen ab. Eine unverwüstliche Pflanze, die sich auch in lehmigen Böden und in Hanglagen festklammert, den Stürmen trotzt und in Dürrezeiten einfach das Wachstum vorübergehend einstellt. Frostfest aber ist die Moraiola nicht. Die meisten unserer Bäume stammen auch vom Emilianobaum ab und der späte Frost in diesem Jahr hat sie „ängstlich gemacht“, wie Silvano das beschreibt, darum gibt es dieses Jahr nur wenige Oliven.
Ich kann nicht von anderen Landesteilen sprechen, aber in Umbrien ist ein Leben ohne Olivenöl unvorstellbar. Und olio bedeutet hier immer kaltgepresst, extra vergine und, nach heutigen Maßstäben, bio – die Moraiola ist gegen die Olivenfliege beinahe resistent. Auf kleine Wunden, eingerissene Fingernägel, brüchiges Plastik, Haare mit Spliss, stumpfes Holz, entzündete Gehörgänge, verschnupfte Nasen, Flecken in der Wäsche, müde Augen und Bruschetta gehört Olivenöl. Was sonst?
Die Kunde, dass man aus der Milch von Kühen Butter herstellen kann, hat die Supermarktregale zwar erreicht, aber verwendet wird sie in Umbrien für Kuchen, Gebäck und Süßwaren – die normale Packungsgröße ist 125 Gramm. „Aber gehört nicht in ein risotto milanese am Schluss ein bisschen Butter, damit es cremiger wird?“, fragen kulinarisch gebildete Lesende sich vielleicht. „Mailand gehört nicht zu Italien. Das ist Österreich“, wurde mir geantwortet. (Ein Mailänder hat mir anvertraut, dass er der Meinung sei, seine Heimatstadt sei – schlicht und einfach; machen wir uns nichts vor; es ist, wie es ist; ascolta, hör mir zu – die einzige europäische Stadt in Italien.)
Die Moraiola bleiben klein, hart und grün und wechseln schlagartig, zwei Wochen, zu tiefschwarz. Der Tag, an dem Mirco, Veronica und Lucio kamen, um uns bei der Ernte zu helfen, war in diesem Jahr der elfte November, ein sonniger, warmer Tag ohne Regen, ohne Sturm. Anders als der davor oder der danach.
Um Oliven zu ernten, breitet man unter ihnen Netze aus, die zehn mal zehn Meter groß sind und an einer Seite bis zur Mitte eingeschnitten sind. In Hanglagen wie bei uns hebt man die tiefste Seite mit Stangen an, damit die Oliven nicht bis ins Mittelmeer kullern.
Zur Ernte verwendet man kleine Plastikharken, nicht länger als eine Handspanne sind, steckt sie auf Teleskopstangen und kämmt damit die Zweige und Äste, damit die Oliven ins Netz fallen. Nicht schlagen, das ist verpönt – kämmen! Es gibt Rüttler, Reißer oder Rupfer, die mit Kompressoren angetrieben werden, um das Meditative der stundenlangen Repetition mit Gestank und Dröhnen zu zerreißen. Aber – San’Emiliano sei Dank – weder das Gerät von Fabrizio noch das von Mirco funktionieren. Ohne fossile Brennstoffe ist man in Macereto Alto deutlich schneller.
Wenn wirklich keine einzige Olive mehr am Baum ist – und ich meine wörtlich: keine einzige Olive. Wehe, du opferst die sakrale Gründlichkeit für die germanische Effizienz – hebt man das Netz an, damit alles zusammenkullert und füllt die Pracht in Kisten. Riecht sensationell. Nächster Baum, rinse and repeat.
Vier Bäume waren ertragreich, zwei eher mau, einige Kleine haben Frau Anders und ich mit den Händen abgeerntet, weil es oft nur ein einziger Ast war, der Früchte trug. Um diese Bäume hat sich mindestens acht Jahre niemand gekümmert und wir lernen das Gewerbe erst so langsam. Sehr langsam, denn die Menge an Theorien über den richtigen Beschnitt ist mit der Menge der befragten Personen kongruent.
Insgesamt haben wir dieses Jahr 83 Kilogramm Oliven geerntet, in Kisten geschüttelt, von Ästen und Blättern gereinigt. Zu fünft waren wir einen Tag beschäftigt, aber hätten wir nicht so viel geratscht, wäre das Pensum auch in der Hälfte zu bewältigen gewesen.
Am Montag fuhr ich zur Ölmühle von Dino, wo die restlichen Ästchen maschinell herausgeschüttelt wurden, bevor die Oliven geduscht, in einer Zentrifuge wieder getrocknet, in einer Mühle gemahlen und in einem Dingsbums, dessen Namen ich vergessen habe, geknetet wurden.
Die Temperatur in Mühle und Dingsbums wird überwacht, denn überschreitet sie 27 Grad, dann war’s das mit der Jungfräulichkeit – dann ist das Öl nicht mehr „vergine“. Und „extra“ bleibt es nur bis zur nächsten Ernte, auch eine Vermischung mit anderen Ölen würde es diesen Titel kosten. Was am Ende aus dem Hahn in unsere Fünfliter-Dama rinnt, ist eine sämige, trübe, grasgrüne Flüssigkeit, die möglichst schnell auf ein Stück Röstbrot gehört. Oder auf einen eingewachsenen Zehennagel.
Wir haben zehn Kilo Öl erhalten, was 10,7 Litern entsprach. Dinos Tochter hat eine komplexe Formel in den Taschenrechner gehackt und uns 15 Euro berechnet. Sehr schönes Öl, meinte sie. Belissimo olio. Alte Bäume? Ja, alte Bäume.
Das Öl vom letzten Jahr – da hatten wir 380 Kilo Oliven – ist bis auf einen Liter verbraucht, wobei wie den Löwenanteil an Familie und Freunde verschenkt haben. Unser Eigenverbrauch liegt, wie wir jetzt wissen, bei 15 Liter im Jahr – wie bei unseren Nachbarn auch, eine unbewusste Assimilation. Die Farbe des Öls von 2022 hat sich von grasgrün zu sonnengelb geändert. Wenn es dann bernstein wird oder gar braun, ist es nicht mehr genießbar.
Das frische Grasgrünöl schmeckt scharf, fruchtig und bitter. Der Polyphenolgehalt der Moraiola ist besonders hoch. Das sonnengelbe vom letzten Jahr hat seinen Biss verloren und eine leicht süße Note, der Geschmack ist verhaltener und der Rauchpunkt in der Pfanne höher.
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