Für Menschen, die sich nicht integrieren lassen wollten, gab es in Europa bis in die Moderne genug Raum, sich einfach in die Natur zurückzuziehen. Einsiedler nannte man diese Menschen und romantisierte ihr Leben . Weise müssten sie sein und gelassen, stellte man sich vor, von den Alltagssorgen befreit.
Doch der Platz wird knapp, selbst in Maine, vielleicht ist Christopher Thomas Knight der letzte Einsiedler gewesen. Für fast 28 Jahre hat er ohne menschlichen Kontakt in den Wäldern gelebt. Der Journalist Michael Finkel hat ein Interview mit ihm geführt, dessen Artikel war meine wichtigste Quelle.
Maine ist uns hauptsächlich aus den Geschichten Stephen Kings bekannt. Es ist ein bisschen kleiner als Ägypten und hat so viele Einwohner wie München. Es lebt von seiner Schönheit und dem damit verbundenen Tourismus. Sechs Monate lang liegt es unter Schnee verborgen, die Temperaturen sind dann oft unter 20 Grad minus.
Christopher wurde am 7. Dezember 1965 in Albion geboren, einer Stadt mit weniger als 2000 Einwohnern. Er hat vier ältere Brüder und eine jüngere Schwester, seine Eltern seien gute Eltern gewesen, sagt er. Eine alte Yankee-Familie, meint er. Nicht so emotional, so touchy-feely. Eine stoische Lebenseinstellung wurde erwartet.
Er bleibt unauffällig, hat gute Noten in der High-School, aber keine Freunde, macht eine neunmonatige Ausbildung zum Elektroniker und tritt dann für nicht einmal ein Jahr eine Arbeit an. Er verlegt Alarmanlagen – das wird ihm noch nützlich sein.
Dann war da dieser eine Tag im Jahre 1986. Er packt seinen Rucksack und das Zelt, wirft alles in das Auto, das er sich mit seinem Bruder teilt und fährt los. Warum er diesen Entschluss gefasst hat, weiß er nicht zu sagen. Einen Plan hätte er nicht gehabt. Erst einmal weit weg. Hinein in die Wälder auf immer kleinere Wege, bis der Tank beinahe leer ist. Er legt den Schlüssel in die Mittelkonsole und wandert los. Keine Minute hätte er darüber nachgedacht, umzukehren. Er schreibt keinen Brief, hat niemanden angerufen vor seinem Aufbruch und er kehrt nicht zurück. Die Familie gibt keine Vermisstenanzeige auf. Jahrelang hat er keinen Kontakt zu anderen Menschen mehr, nur in den frühen Neunzigern begegnet er einem Wanderer, erzählt er. „Hi“, hätte er gesagt, mehr nicht. Das einzige Wort, das er in 27 Jahren spricht.
27 Jahre ohne Steuererklärung, Geld, Fernsehen, Internet, Telefon, Post, Supermarkt, ohne Arzt, Medizin, Dusche, Bett, fließend Wasser, Heizung, Toilette oder sogar nur einem schönen Lagerfeuer – der Rauch hätte gesehen werden können.
Er kann sich nicht aus der Natur ernähren, Jagd ist im ein Gräuel; es fehlt ihm an Kenntnissen, die harten Winter zu überleben. So beginnt er, wenn kein Schnee liegt, die Häuser der Anwohner, Ferienhütten, Campingplätze und Freizeitresorts zu beklauen. Nachts und nur, wenn niemand da ist. Er stiehlt bei seinen Einbrüchen – 40 Stück pro Jahr – alles, was er braucht. Essen, Besteck, Propangas, Kleidung, Toilettenpapier, Seife, Waschmittel, Deo, Rasierer, Mausefallen, Taschenlampen, Kissen, Bücher und Zeitschriften. Im Spätsommer bereitet er sich auf den harten Winter vor. „Viel Zucker und Alkohol, um fett zu werden“, berichtet er. Das Verfaulen seiner Zähne nimmt er hin.
Trotzdem überlebt er manchen Winter kaum. Um zwei Uhr morgens, wenn die Nacht am kältesten wird, ist, lässt er sich wecken. Um zwei Uhr morgens, da geht es um Leben oder Tod. Das Kondenswasser im Schlafsack droht zu gefrieren. Er steht auf und läuft Kreisbahnen um’s Zelt, jede Nacht, damit die Durchblutung wieder in Gang kommt.
Mittlerweile war er in Maine zu einem Mythos geworden. Der mysteriöse „North Pond Hermit“ war eine Legende, mit der man Kindern Angst macht – ein menschlicher Sasquatch. Dabei wird er nicht ein einziges Mal gesichtet. Im Winter verlässt er seinen Zeltplatz nicht, um keine Spuren im Schnee zu machen. Im Notfall bewegt er sich auf Wurzeln und Steinen, ohne einen Fußabdruck zu hinterlassen. Sein Zelt ist unter Camouflageplanen versteckt und alles, was Licht reflektieren könnte, bemalt er grün.
Mit den Jahren lässt seine Konstitution nach, die Zähne sind kaputt und die Brille, die er als Neunzehnjähriger verschrieben bekommen hat, hilft ihm nur auf Armlänge beim Sehen, danach verschwimmt alles. Schließlich wird er entdeckt. Moderne Bewegungsmelder werden ihm bei seinem letzten Raubzug im Pine Tree Summer Camp zum Verhängnis. Er wird festgenommen und gesteht alle Einbrüche reumütig. Das Protokoll des Sheriffs beschreibt ihn als sauber, gepflegt und frisch rasiert. Die Untersuchungshaft bis zum Gerichtsverfahren ist für Christopher Folter. Er nimmt dramatisch ab, pflegt sich nicht mehr und redet leise mit sich selber.
Sein Schicksal wird währenddessen zum Nummer-Eins-Gesprächsthema in Maine:
„Soll er doch in der Natur leben, wenn er will. Er hat niemandem etwas getan und nur gestohlen, was er brauchte“, sagen die Romantiker. Ein Kickstarter wird eingerichtet, einige Bewohner wollen ihn kostenfrei auf ihrem Besitz wohnen lassen.
„Aber er hat hunderte Menschen um ihren Schlaf gebracht und ihres Gefühls für Sicherheit beraubt! Woher sollte man denn ahnen, dass er unbewaffnet ist? Wenn er wirklich wie ein Trapper leben will, soll er halt jagen oder fischen und nicht einfach klauen gehen. Der ist doch nur faul und geisteskrank, der muss für immer weg!“, sagen die weniger Offenherzigen.
Im Endeffekt hat der letzte Einsiedler für seine Vergehen nur sieben Monate eingesessen, der Richter konnte erkennen, dass er im Gefängnis eingehen würde wie ein Gänseblümchen in der Sahara. Er muss sich lebenslang einmal die Woche beim Sheriff melden und entweder einen Job finden oder zu Schule gehen. Er ist zurück zu seiner Mutter gezogen, die immer noch im gleichen Haus lebt, das er 1986 verlassen hat. Aber das macht ihn nicht glücklich.
„Mir gefällt die Gesellschaft nicht, die ich da sehe. Da pass ich nicht rein. Es ist zu laut, zu bunt, zu hässlich. Voller Unwichtigkeiten.“
Er hatte sich bewusst für das Leben eines Einsiedlers entschieden, er verwendet den Ausdruck „Hermit“, er hatte die Einsamkeit freiwillig gesucht. Notizen hat er sich keine gemacht und auch keine Biografie geschrieben. Warum auch? Er ging ja davon aus, einsam und unentdeckt im Wald zu leben – wie das ein echter Einsiedler eben tut.
„Aber Du musst doch nachgedacht haben über etwas? Über das Leben, darüber, warum man lebt?“ fragt ihn Michael Finkel beinah verzweifelt, und: „Was sind Deine Erkenntnisse als Einsiedler? Nach 28 Jahren Einsamkeit?“
„Das Alleinsein hat meine Wahrnehmung geschärft. Aber, wenn ich diese Fähigkeit auf mich selber anwendete, verlor ich meine Identität. Die habe ich sonst nicht benötigt. Ich war einfach nur da. Ohne Zuhörer, ohne Publikum. Es war überhaupt nicht nötig, mich selber zu definieren. Ich war irrelevant. Der Mond war mein Minutenzeiger, die Jahreszeiten mein Stundenzeiger. Ich hatte nicht einmal einen Namen. Ich war nicht einsam. Romantisch ausgedrückt: Ich war total frei.“
Ja, wie ist das mit der Identität? Dem Selbstbild? Der Selbstwahrnehmung? Brauchen wir diese psychologischen Fertigkeiten vielleicht nur, wenn wir mit anderen zusammenleben?
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