Dekaden halten sich nicht an Jahreszahlen. Die „Sixties“ zum Beispiel fingen erst 1964 an und endeten, völlig erschöpft, Mitte der Siebziger. Musikalisch betrachtet, meine ich. Ende der Siebziger waren die Hippies schon lange an einer Überdosis gestorben. Die Glam Rocker hatten ihre ausgetrockneten Leichen in der Wüste gefunden, im Schneidersitz, mit Blick auf das Sternzeichen Wassermann, aber sie einfach liegen gelassen.
Davon wollte ich nichts wissen. Peace and Love and Fucking Understanding! Ich hörte lieber Ersatzdrogen: Hannes Wader, Bernies Autobahnband, Ougenweide und die österreichischen Liedermacher. Vor allem Wolfgang Ambros‘ „Es lebe der Zentralfriedhof“ – dessen Wienerisch ist dem Bayerischen zumindest vokalverwandt. Dort war meine Ecke, in der es immer noch kuschelig und warm war, wo es noch Hoffnung gab, dass alles doch gut ist.
Dann kam Punk und Punk machte mir erst einmal richtig Angst! Genau verstanden habe ich die Texte auf „Never Mind The Bollocks“ nicht, sie waren ins Mikro gerotzt und ähnelten in keiner Weise Pauls Stimme in „All You Need Is Love“, mit Streichern und Sitar im Hintergrund. Ich blickte auf die Bilder von Sid Vicious in den Musikmagazinen meiner Klassenkameraden und konnte nicht verstehen, dass jemand so aussehen und sich so gebärden konnte und trotzdem ein Idol geworden war. Fans mit seinem Bass K.O schlagen? Sich auf der Bühne mit einer Rasierklinge „Gimme a fix“ in die Brust schneiden? Im Ernst? Es stellte sich die Frage: War in Wirklichkeit nicht alles gut, sondern scheiße? Die Wahrheit ist: Ich hatte die erste Welle verschlafen. Es dauerte bis zu The Clash’s „Combat Rock“, 1982, bis ich mir eine Punkplatte angeschafft habe.
Zwischendurch, von 1979 bis 1982, fand ich Trost in der sogenannten „Neuen Deutschen Welle“. Zwei Wellen waren es sogar, aber dieses Mal war ich bei der ersten dabei. NDW hat kein exakt umrissenes Erscheinungsbild, aber die erste Welle war eine Mischung aus Dadaismus, Punk, New Wave und Elektronik. Die ersten Sampler waren auf dem Markt und die alten Synthesizer und E-Gitarren standen auch noch im Übungsraum herum.
Dazu kamen neue, intelligente Texte und viel Mut, alles auszuprobieren, was machbar war. Die Platten waren schwierig zu finden, viele Songs habe ich zuerst auf Kassette gehört, als Kopie einer Kopie einer Kopie, manche habe ich nie in einer besseren Qualität gehört.
Mit dieser ersten Welle der Welle hatte ich Texte, die ich verstand; eine völlig neuartige Musik und das Gefühl, dass es überall andere Menschen gibt, die etwas Neues schaffen wollen – egal, ob das massentauglich war oder nicht.
NDW war meine erste Subkultur.
Dann begannen einige Bands langsam doch Erfolg zu haben. „DAF“ hatte auf einmal „Tanz den Mussolini“, dessen Zensur in den – damals so genannten – bürgerlichen Medien diskutiert wurde. „Fehlfarben“ brachte es mit „Es geht voran“ bis auf Platz 22 in den Singlecharts, „Extrabreit“ schaffte es mit „Hurra, hurra, die Schule brennt“ noch zehn Ränge höher zu charten. Da gingen sie hin, die alten Helden.
Die zweite, nicht mehr ganz so neue, deutsche Welle wurde frisch gecastet. Auf einmal gab es Künstler wie Nena, Markus oder Hubert Kah, die von ihrem Management als NDW vermarktet wurden und brav in der ZDF-Hitparade auftauchten, zwischen zwei Schlagerfuzzis, in Vollplayback.
Ich erinnere mich, wie ich mit einem meiner Außenseiterfreunde die Schule schwänzte. Wir saßen in einem verrauchten Pils Pub und er dopte sich gerade mit dem dritten Weißbier. Jemand hatte in der Jukebox drei Mal hintereinander (1 DM) „Nur geträumt“ von Nena gedrückt. Mein Klassenkamerad, der noch Rockern mit langen Haaren verfallen war und dessen Lieblingsband „Van Halen“ hieß, erklärte mir, dass er „eigentlich“ die Neue Deutsche Welle richtig gut fand.
Ich wusste in diesem Moment: Die „Neue Deutsche Welle“ ist nicht mehr neu. Sie ist vorbei. Das ist elitistisch, aber ich war 19 Jahre alt und hatte gerade meine Subkultur verloren. Drei Jahre hatte es gedauert, dann war sie von den Plattenfirmen auf Massentauglichkeit gebügelt worden. Alles war jetzt „NDW“, wenn es deutsche Texte hatte und nicht alt war. Ruhe in Frieden, erste Welle der Welle.
Aber alles war gut. Ich hatte bald die „Novelle Vague“ und tanzte mir zu „Marcia baila“ von „Les Rita Mitsouko“ in der Disco die Trauer aus den Poren.
Um diesen Bericht auch mit nachhörbaren Fakten zu belegen, hier ein paar Beispiele der ersten Welle der Welle:
„Mittagspause“: Herrenreiter
Hoch zu Ross, den Bundesgeier am Gewand, Herrenreiter haben wieder zu sagen im Land! Schwarz: Der Himmel unserer Zukunft. Rot: Die Erde der Vergangenheit. Gold: Die Zähne unserer Väter
„Abwärts“: Türkenblues
Wir sind die Leichen von Kalkutta, und Heroin aus Amsterdam, das gelbe Fieber aus Rotchina und eine Strasse nach Hanoi. Wir sind die Ratten aus Neu-Dehli und eine U-Bahn in New York. Wir sind die Cholera bei Hertie und das Plastik aus Hong Kong.
„Fehlfarben“: Paul ist tot
Ich schau mich um und seh´ nur Ruinen, vielleicht liegt es daran, daß mir irgendetwas fehlt. Ich warte darauf, daß du auf mich zukommst, vielleicht merk´ ich dann, dass es auch anders geht. Dann stehst du neben mir und wir flippern zusammen – Paul ist tot, kein Freispiel drin. Der Fernseher läuft, tot und stumm, und ich warte auf die Frage, die Frage „Wohin, wohin?“ Was ich haben will das krieg´ ich nicht, und was ich kriegen kann, das gefällt mir nicht. Ich will nicht was ich seh, ich will was ich erträume. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mit dir nicht etwas versäume.
„Ideal“: Blaue Augen
Die Insiderfeten, da schlaf ich ein, ich will auch nicht in London sein. Bei Sex und Drugs und Rock’n Roll ist das Mass an Stumpfheit voll. Da bleib ich kühl, kein Gefühl. Der ganze Hassle um die Knete macht mich taub und stumm. Für den halben Luxus leg ich mich nicht krumm, nur der Scheich ist wirklich reich.
„DAF“: Der Räuber und der Prinz
Der Räuber und der Prinz. Ein schöner junger Prinz verirrte sich im Wald. Da packten ihn die Räuber, doch einer von den Räubern liebte diesen Prinzen. Ich liebe dich, mein Prinz! Ich liebe dich, mein Räuber!
„The Wirtschaftswunder“: Junge Leute
Junge Leute tragen heute langes Haar. Das ist Mode, das ist schick und wunderbar. Wir sind junge Leute und wir leben heute. Du und ich.
„Extrabreit“: Polizisten
Polizisten haben viele Pflichten, eine Frau und zwei Kinder. Wenn sie von der Nachtschicht kommen, haben ihre Augen dunkle Ränder. Sie rauchen „Milde Sorte“, weil: Das Leben ist doch hart genug. Polizisten speichern, was sie wissen, elektronisch ein. Alles kann ja irgendwann und irgendwie mal wichtig sein. Polizisten werden jeden Tag und jeden Monat immer mehr. Wenn du abends Eiscreme-essend von der Tanzstunde nach Hause gehst, wenn du morgens mit der neuen „Bravo“ an der Haltestelle stehst, wenn du bei McDonalds in der Schlange deinen Kopf nach hinten drehst, kannst du sie sehen. Du kannst sie sehen.
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