Mythos Film III: Kuleschow-Effekt

In Ermangelung von belichtbarem Film während der Oktoberrevolution widmete sich der Regisseur Lew Kuleschow 1917 der Theorie seines Handwerks. Eine seiner Thesen war, dass nicht die Bilder einer einzelnen Einstellung erzählerischen Sinn stiften, erst durch ihren Platz in einer Sequenz von Einstellungen entsteht ein Zusammenhang, der mit Emotionen gefüllt werden kann. Der Film ist nicht eine Weiterentwicklung der Fotografie oder der Malerei, sondern der Bildgeschichten, wie sie in Kinderbüchern oder auf den Tafeln von Moritatensängern zu finden waren.

Um diese These zu belegen, dachte er sich ein Experiment aus, dessen genauer Aufbau uns verloren gegangen ist. Allen Darstellungen gemein ist: Kuleschow verwendete eine statische Nahaufnahme des berühmten Schauspielers Iwan Mosschuchin, dessen Gesichtsausdruck völlig neutral war.

Kuleschow-Effekt in Bildern

Er teilte seine Probanden in drei Gruppen auf: Die erste Gruppe sah erst Mossuchin und in der nächsten Szene einen Teller Suppe. Der zweiten Gruppe wurde Mossuchin und ein Sarg mit einem toten Mädchen gezeigt, der dritten Mossuchin und danach eine Frau, die auf einem Diwan lag und in die Kamera blickte.
Nun wurde gefragt, welche Emotion Mossuchins in seinem Gesichtsausdruck dargestellt hatte. Die Suppengruppe entdeckte Hunger in seinem Blick, die Sarggruppe tiefe Trauer und die Diwangruppe innige Zuneigung. Alle waren sich einig, dass es dem Genie des Schauspielers geschuldet war, mit wenigen Mitteln so intensive Gefühle darzustellen.

Wir wissen: Der berühmte Mime mimte nicht.

Der Inhalt der zweiten Einstellung hatte, sozusagen rückwirkend, die erste, das Gesicht, erst mit emotionaler Bedeutung aufgeladen. Diese Beobachtung, genannt der Kuleschow-Effekt, wurde zum Handwerkszeug aller Filmemacher. Eine besondere Bedeutung stellte diese Erkenntnis für die Propaganda dar, sowohl für Kommunisten als auch für Faschisten. Oder für Kapitalisten. Deren Propaganda nennt man „Werbung“.

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