Es ist nicht Voodoo!

Falls Du sie triffst – denn man trifft hin und wieder Menschen, die einen überraschen. Hin und wieder werden Menschen schlagartig sichtbar, die vorher so unscheinbar waren, dass man sie nicht wahrgenommen hat. Wenn Du sie also triffst, dann wirst Du auf den ersten Blick erkennen, dass das Leben es nicht gut gemeint hat mit Medea.

Ihre Mutter wollte nicht schwanger werden, ihr Vater keine Familie gründen, ihr Lehrer lieber Bücher schreiben, ihre Meisterin nicht arbeiten, ihre erste Freundin lieber eine Blondine und ihr Arzt, dass sie 30 Kilo abnimmt.

Es ist kein Cafè und kein Club, wo Du sie triffst. Vielleicht in der U-Bahn. Jeans, Turnschuhe, schwarzes Schlabbershirt, das Gesicht halb unter den Haaren versteckt, vertieft in das Buch auf ihrem Kindle, obwohl sie nur den gleichen Absatz wiederholt, bis ihre Station aufgerufen wird.

Vielleicht auch in dem kleinen Supermarkt, wo sie ihre Tiefkühlgerichte, Kerzen und die Prinzenrolle kauft und manchmal eine Flasche Eierlikör. Ihr rumpelt zusammen, als sie nach Hause geht. Ihr Rucksack fällt zu Boden und Deine Tasche und man entschuldigt sich und schaut sich – so kurz nur möglich – ins Gesicht.

Wenn Du sie triffst und ihr euch kennenlernt, dann besuchst Du sie vielleicht. Sie hat ihre Wohnung aufgeräumt, die zwei Kochplatten glänzen tiefschwarz, auf dem Couchtisch stehen Blumen, helle Rechtecke auf der Tapete zeugen von Bildern, die sie abgehangen hat. Wegen Dir. Das kleine Badezimmer riecht nach Plastiklimetten, die Schlafzimmertür ist verschlossen – natürlich ist sie verschlossen.

Wenn ihr gute Freunde seid, siehst Du vielleicht einmal, was hinter der Tür ist. Ein schmales Bett, ein Nachtkästchen aus Pressspan, ein dunkler Bauernschrank und vor dem Fensterbrett ein Altar. Kerzen, Postkarten, Münzen, Blütenblätter und eine Nussholzplatte, auf die rundherum goldene Symbole gemalt sind.

Sie hat Dir bereits erklärt, dass es Magie gibt, sonst würdest Du das nicht sehen dürfen. „Nicht wie bei Harry Potter“, hat sie gesagt und gekichert. „Und nicht wie Merlin oder Gandalf oder die Hexe Mim“, hat sie gesagt. „Kennst Du die Hexe Mim?“

Vielmehr ist es so, dass alles verknüpft ist. Das ganz Große und das ganz Kleine, das Oben und das Unten, das Heilige und das Banale. Wenn man weiß, was miteinander verknüpft ist, kann man das Eine ändern und das Andere auch. Das ist alles, hat sie erklärt. Das ist Magie, hat sie gesagt und Dich angeschaut.
Verstehst Du, was ich Dir sagen will, hat sie gefragt.

Vielleicht glaubst Du ihr, vielleicht verstehst Du, vielleicht werdet ihr ein Herz und eine Seele. Denn nur, wenn ihr ein Herz und eine Seele seid, zeigt sie Dir ihr kleines Geheimnis, nimmt Dich an die Hand und führt Dich in ihr Schlafzimmer. Sie zieht die untere Schublade des Bauernschranks auf. Darin befinden sich Setzkästen mit Deckeln aus milchigem Plastik. Einen nimmt sie heraus, legt ihn auf das Bett. Sie lächelt Dich an, öffnet den Kasten und Du blickst auf eine Sammlung von fingerlangen Püppchen.

Ja, die habe ich alle selber gemacht, wird sie sagen und stolz auf ihr Werk blicken. Jede Puppe ist anders. Sie haben Hände und Gesichter aus Wachs und tragen Alltagskleidung – T-Shirts, Hoodies, Jeans, Kostümchen, Anzüge, Hochzeitskleider, Bademoden. Im Halbdunkel des Schlafzimmers wirken sie wie geschrumpfte Menschen.

Das hier ist Frau Lange, erklärt sie. Das war meine Nachbarin. Sie hat ihr Leben lang in der Handschuhfabrik gestanden und war sehr krank. Hat jemand im Stockwerk auch nur das Radio angeschaltet, hat sie die Polizei gerufen. Jetzt ist sie tot.

Das mit dem affigen Bart ist Aydin, sie deutet auf eine große Figur im Setzkasten. Das ist der neue junge Mann in meinem Supermarkt. Er ist sehr nett und höflich und plaudert mit jedem. Frauen aber sind für ihn Luft.

Ihr verbringt viel Zeit mit den Puppen. Eine nach der anderen holt sie hervor und schildert Dir, wie sie Stücke im Puzzle ihres Lebens sind, das es nicht gut gemeint hat mit Medea. Du lernst viel über sie. Ihr seid ein Herz und eine Seele, vergiss das nicht.

Wenn Dir das keine Angst macht und ihr vielleicht ein Paar werdet, dann darfst Du Zeuge des Rituals werden. Auf dem Bett darfst Du sitzen und ihr zusehen und lauschen. Sie kniet vor dem Altar und zündet vier Kerzen an, eine in jeder Ecke. Mit frischer Farbe malt sie einen weiteren goldenen Kreis rund um die Holzplatte mit den Symbolen. Sie singt leise eine Melodie – einfach wie ein Kinderlied, aber in einer fremden, weichen Sprache.

Magie ist es, die Verknüpfungen zu erkennen, die das Universum zusammenhalten. An Jedem hängen unzählige Fäden und nur entlang dieser Fäden können wir uns bewegen. Sie überschneiden sich und manchmal verknoten sie sich und manchmal scheint es, als würden zwei Menschen an den gleichen Fäden hängen.

So wie Du und ich, sagt sie.

Alles, was man tun kann, ist vorsichtig an den Fäden zu ziehen. Das Kleine kann man verändern und warten, bis sich dadurch das Große verändert. Es sind die kleinen Dinge. Das große Geheimnis liegt in den kleinen Dingen. Das kannst Du auch lernen, sagt sie und lächelt Dich an. Du liebst sie, vergiss das nicht.

Im Setzkasten liegt die Puppe von Herrn Nkosi direkt neben der von seinem Sohn Napo. Das ist das Sweatshirt, das ich vor zwei Wochen genäht habe, sie deutet auf Napo, erinnerst Du Dich? Du nickst, denn Du erinnerst Dich. Du hast für Medea das Logo der Ruprecht-Karl-Universität gegoogelt, das jetzt auf der Brust der Figur prangt.

Sie nimmt Herrn Nkosi und legt ihn auf den Altar.

Er ist besonders gut verknüpft, sagt sie. Durch Stoff und Haar und Schweiß. Nein, sie lacht, als Du sie fragst: Nein, es ist kein Voodoo, Du Dummerchen.

Während sie das Kinderlied singt, zieht sie Herrn Nkosi die Hose aus. Darunter sind winzige weiße Boxershorts und Socken. Als er nackt vor ihr auf dem Altar liegt, greift sie unter den Tisch, nimmt eine Schere und schneidet der Puppe das linke Bein ab.

Du liebst sie. Darum bist Du hier und darum bist Du Zeuge der Amputation.

Medea trennt die Naht an der Hinterseite des abgetrennten Beins auf, entfernt die Füllung mit einer Pinzette, tauscht sie gegen neue aus, schließt die Wunde und näht das Bein wieder an. Als Herr Nkosi wieder an seinem Platz im Setzkasten liegt, bläst sie die Kerzen aus und ist mit ihrer Arbeit zufrieden.
Sie ergreift Deine Schultern und drückt Dich in die Matratze und ihr macht Liebe, als wäre Sex auch Teil des magischen Rituals.

„Hallo, Medea!“, sagt der leibhaftige Herr Nkosi, als ihr ihm am nächsten Tag im Treppenhaus begegnet. „Geht es Dir gut?“, fragt er, aber sein Grinsen verrät, dass er etwas erzählen möchte.
„Danke der Nachfrage. Mir geht es sogar sehr, sehr gut, Herr Nkosi! Und Ihnen?“
„Mir geht es auch sehr gut! Du wirst es nicht glauben! Napo ist angenommen! Er hat den Studienplatz in Heidelberg bekommen! Mein Sohn wird ein Arzt – stell‘ Dir das vor!“
Und er nimmt Medeas Hände und sie lachen und hüpfen auf der Treppenstufe auf und ab, als wären sie Schulkinder. Er weint ein bisschen und sie weint ein bisschen und Du auch.
Als ihr weitermüsst, zur U-Bahn, dreht sich Medea um und fragt:
„Was macht das kaputte Knie?“
Und Herr Nkosi antwortet: „Komisch, dass Du fragst. Heute bin ich aufgewacht und konnte es zum ersten Mal wieder bewegen. Es ist wie neu!“

Das große Geheimnis liegt in den kleinen Dingen. Vergiss das nicht!

(Diese Geschichte professionell vorgelesen von Frau Anders hier.)

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