Unter den Wellen ewige Ruhe

Es ist viel zu lange her. Ein ganzes Leben. Seit Stunden starre ich ins Wasser und sehe dem Meer beim Atmen zu. Die Wellen in der Bucht klatschen ihre Wasserfinger auf die Felsen. Über mir kreischt eine einsame Möwe, weil ich sie von ihrem Jagdsitz vertrieben habe. Windstöße zupfen mir die Kapuze vom Kopf und meine Lippen schmecken nach versalzener Bouillabaisse. So warte ich, während die grauen Wolken dahinrasen und die Zeit nicht vergeht. Ich warte auf sie.

Wie viel Zeit vergangen ist, seit dem Sommer, als ich hier auf Reha war. Ich war so jung und hatte so viel Angst vor dem Leben, vor dem da draußen, vor allem, was nicht bekannt und vertraut war – natürlich habe ich nicht den dummen Segelkurs gemacht. Wie sollte Segeln mir die Traurigkeit nehmen?
Jetzt habe ich mehr als die Hälfte meines Lebens hinter mir und nicht mehr viele Dinge können mir Angst machen. Einen Mann, den ich nicht liebte, habe ich ans Leben verloren und ein Kind, das ich vergötterte. Seltsamerweise haben mich diese Heimsuchungen von der Angst geheilt. Was könnte Schlimmeres geschehen? Da draußen. Im Leben. Es gibt kein Grund, sich vor der Tiefe zu fürchten, wenn man im Tal angekommen ist.
Damals, als ich nicht segeln wollte, kam sie in mein Leben.
Unerhofft. Unerwartet. Uneingeladen. Ich habe das nie erzählt.
Hier, an dieser Bucht war es. Ich saß da und schaute den Optimisten hinterher, auf denen sich die Anderen mit Masten, Klickern, Seilen und dem Wind plagten. „Optimist“ ist eine schöne Bezeichnung für ein Boot – besonders, wenn es mit Depressiven gefüllt ist, die alle nicht die Chuzpe hatten, zu gestehen, dass sie lieber im Bett geblieben wären.

Ihre Augen blickten direkt in meine Augen. Ihr Gesicht war weiß wie Schnee. Ich bin hochgestreckt und wäre um ein Haar ins Meer geschlittert.
„Mein Gott, eine Wasserleiche!“, war mein erster Gedanke. „Hoffentlich muss ich die nicht rausziehen?“, war mein zweiter. „Ich sollte die Polizei rufen“, sagte ich mir, doch damals waren Telefone noch an Wänden festgebunden. Also erstarrte ich einfach. Also riskierte ich einen zweiten Blick.
Unter der Oberfläche des Wassers trieb ein weiblicher Körper. Da, wo ich einen Nabel habe, begann ihr Schuppenkleid – die Beine hinab, die statt in Füßen in eine Flosse mündeten.
Eine Nixe. Eine fucking Nixe! Eine Nixe, aber nicht, wie sie im Buche steht, sondern lebendig und leibhaftig. Sie war so körperlich, so unmittelbar wahr, dass ich keinen Augenblick an dem zweifelte, was ich sah. Wenn ich ins Wasser hechtete und sie nicht vor mir flüchtete, könnte ich sie berühren, könnte ich meine Hand über die Schuppen gleiten lassen, die im Licht mal smaragdgrün schimmerten und dann lapislazuli. Es gab Nixen, es ist eine Tatsache, finde dich damit ab und ich – nur ich – sah gerade, in diesem Moment, einer in die riesengroßen Augen. Ich war nicht einmal verwundert.
Entspannt trieb sie vor mir, sanft von den Wellen bewegt, als wäre sie ein natürlicher Teil der Brandung und sie studierte mich. Ich setzte mich wieder und studierte zurück. Ihr Gesichtsausdruck war fremdartig, doch ich erkannte darin die Neugier. Was sie von mir dachte? Ob sie dachte, die Gummistiefel wären meine Füße, die Fäustlinge meine Hände und der Regenmantel meine Haut?
Sie war sichtlich in ihrem Element, sie war genau an dem Ort, für den sie gemacht war – ich aber benötigte Plastik, Gummi, Wolle und Leinen an mir, nur mein Gesicht war der Natur ausgesetzt.
Ihre Augen waren schwarze Sphären, an ihrem haarlosen Kopf war keine Nase und ihre dünnen Lippen umrahmten einen Mund, der doppelt so breit war wie meiner. Unter den Achseln, bis hinab zur Hüfte waren Schnitte in ihrem Leib. Rosa glänzte es darunter, wenn sich die Wundränder hoben; wenn sie sich senkten, blieb nur perlweiße Haut. Keine Wunden. Kiemen.
Zwischen uns war Stille, nur Stille. Ich hörte den Wind und das Meer nicht mehr und auch nicht die Kommandos, die auf den Optimisten gebrüllt wurden – die Ruhe, die mich ausfüllte, war tief und selbstverständlich und genauso wahrhaftig wie die Anwesenheit dieses Wesens in meinem Leben.
Unter den Wellen ist das Meer ewig ruhig.
Ihr bloßes Dasein änderte alles. Alles. Es gab doch Wunder; ich hatte immer Recht gehabt. Die Welt war so viel größer und bunter als meine jugendlichen Sorgen um eine Zukunft, in der mir eine Arbeit, die ich verabscheuen würde, mir das Geld verdienen sollte, Dinge zu bezahlen, die ich genauso verabscheuen würde. Jetzt, weil sie mich anblickte – jetzt, weil sie mein Vorhandensein bestätigte, war alles wieder ein Märchen, so wie meine Kindheit ein Märchen hätte sein sollen.

Als die Sonne untergegangen war, wurde das Wasser schwarz und ich sah nur selten etwas weiß zwischen zwei Wellen schimmern. „Ich sollte gehen“, sagte eine Stimme in meinem Kopf – ich zuckte, so lange hatte sie geschwiegen. „Die Anderen machen sich Sorgen“, sagte die Stimme. Und ich ging. Für diesen Tag ging ich zurück in die alte Welt, in die Reha, in das kalte Zimmer, zu meiner Zimmernachbarin, die niemals ihren Walkman ausschaltete und zu den Gruppensitzungen, für die ich mir zweimal am Tag Lügen ausdenken musste, als wäre ich noch, am Vorabend der Messe, bei Pfarrer Hegel im Beichtstuhl.
Jede freie Minute verbrachte fortan ich an unserer Bucht. Ich wusste, wenn sie da war und sie wusste, wann ich kam. Am dritten Tag stieß sie ihren Kopf durch die Wasseroberfläche, öffnete den Mund mit den spitzen Zähnen und stieß schrille Pfeiflaute aus, wir lachten und ich sang ihr zur Antwort ein Lied. Sisters of Mercy. Leonard Cohen. Wir hatten keine Worte, wir hatten Melodien. Ich verstand sie und sie verstand mich und wir verstanden uns.
Am fünften Tag stieg ich bis zur Hüfte ins kalte Wasser und wir reichten uns zum ersten Mal die Hand. Ihre Finger waren schmal und lang und zu kräftig und wir lachten vor Freude und vor Aufregung. Ich wollte ihr sanft über die nassen Wangen streicheln und sie in meine Arme nehmen und drücken, aber ich wusste, das wäre ein menschlicher Fehler. Ich wusste, dass sich Nixen nicht umarmen.

Sehr positiv sei das Ergebnis meiner Kur, eröffnete mir Mama bei ihrem Besuch. Sie sagte „Kur“ statt „Reha“ und „Traurigkeit“ statt „Depression“. Ich stimmte zu und drückte sie statt meiner Nixe und lachte sie an, weil mir – sogar in ihrer Anwesenheit – wieder zum Lachen war.
Doch mein Plan stand fest und nach der „Kur“ setzte ich ihn um. Ich zog in ein Dorf mit Namen Vollerwiek und jobbte im Edeka an der Kasse. „Ich arbeite an einem Buch“, hatte ich meinen Eltern erklärt. „Das war ein Vorschlag meiner Therapeutin“, log ich hinterher.
Doch ich war nur dort, um meine Zeit an der Bucht zu verbringen. Mit ihr. Mit meiner Geliebten. Nur, wenn wir zusammen waren, fühlte sich das Leben an, wie sich Leben anfühlen muss. Leben muss jetzt sein, hier sein, wahr sein und ehrlich. So wie sie.
Wir redeten nicht und deswegen und deshalb waren die Geheimnisse, die wir teilten, nur tiefer. Wir schwiegen miteinander, während um uns das Wetter verging und die Zeit geschah. Das Schweigen war nicht still, es kannte keine Wörter, deswegen und deshalb kannte es keine Missverständnisse. Nichts stand zwischen uns. Nichts.

Nur Wasser. Eine Membran nur und doch eine durchsichtige Mauer, die die zwei Welten einer Welt voneinander trennt und immer, immer, immer trennen wird.
Es gibt auch heute keinen Zauber, der ihr Beine und eine Lunge verleihen würde wie bei Hans Christian Andersen oder mir Kiemen und Flossenbeine – ohne zu zögern, hätte ich jeden Handel mit dem Teufel besiegelt für Kiemen und Flossenbeine. Doch auch den Teufel gibt es nicht.
Die Wahrheit, die in mir keimte wie ein Krebsgeschwür, war, das wir mit dem Anfang bereits ans Ende gekommen waren. Unsere Liebe war uns zum Denkmal gefroren, doch Efeu rankte daran empor und seine Ranken würden alles überwuchern. Es gab nur das: nur die Bucht, nur das Jetzt, nie ein Morgen, nie eine Möglichkeit, nie ein ganzes Leben.
Der elementare Schmerz, der uns überwältigte, wenn wir uns trennen mussten – jeden Tag wieder, immer wieder, unveränderbar, ewig und brutal – überschattete schleichend die Freude, uns wiederzusehen. Im ersten Kuss drohten schon die Tränen des Abschieds.
Eine Wolke schob sich wieder vor meine Sonne. Ich erkannte sie. So märchenhaft kann das Leben nicht werden, um einen Fakt zu ändern: Scheint die Sonne, warten die Wolken woanders.
Ich wusste es, so wie ich weiß, dass ich atmen muss und essen und schlafen und kacken und kotzen – das alles! – alles, was dieser dumme Menschenkörper nun einmal braucht, und …
Ich wusste es einfach. Ich wusste, ihr erging es wie mir. Sie war an mich gefesselt, so wie ich an sie. In ihren Augen reflektierte sich die Wahrheit. Ich verstand ihr Pfeifen und ihre Gesten und ich sah in die gleiche stumme Verzweiflung, die in mir simmerte.
Das hatte sie nicht verdient. Sie war an meiner Liebe unschuldig. Und so gebot es eben diese Liebe, dass ich nicht mehr an die Bucht kommen konnte. Nie mehr. Und so verstand ich, dass sie es verstand und dass sie nicht auf mich warten würde.
Also kam ich nicht mehr. Nie mehr.

Es ist lange her. Es ist viel zu lange her. Ein ganzes Leben. Seit Stunden starre ich ins Wasser und sehe dem Meer beim Atmen zu. Jetzt, so viele Jahre später, bin ich mir nicht so gewiss – aber war ich mir damals wirklich so gewiss? Habe ich meine Erinnerungen geschönt?
War es nicht vielmehr so, dass ich litt wie ein verwundetes Reh? Dass ich wieder in Behandlung kam und es eine halbe Ewigkeit gedauert hat, bis ich nicht mehr jede Stunde jeden Tags an sie denken musste?
Bis jetzt habe ich niemandem von ihr erzählt. Meine Krankenakte ist umfangreich genug, ich habe keinen Bedarf, dass jemand noch „Psychose“ darin notiert. Ich kenne die Kriterien: Sicherheit, Unverbesserlichkeit, Unmöglichkeit definieren Wahn. Da ist die Sicherheit, mit der ich an meine Nixe glaube und die Unverbesserlichkeit, denn es gibt kein Gegenargument und zuletzt die Unmöglichkeit dieses Glaubens – wer wäre bereit gewesen, an meine Nixe zu glauben? Niemand.

Die Möwe hat ihr Lamentieren eingestellt und sich resigniert über mir in den Hang gesetzt. Da: Es geschieht, es ist doch wahr! Meine Zweifel fallen von mir ab; von einem Augenblick auf dem anderen erfüllt mich das Meer mit dieser vergessenen Ruhe seiner Anwesenheit. Ihrer Anwesenheit.
Natürlich weiß sie, dass ich da bin – wie konnte ich daran zweifeln?
Ich ziehe alles aus, was ich am Leib trage und steige hinab ins unendliche Meer, bis das Wasser sich über mir verschließt. Von dieser Seite der Membran schaut die Menschenwelt aus wie ein Märchen – wirklich und wahrhaftig und ehrlich ist das Leben nur hier, unter den Wellen.
Sie. Sie und ich. Ein letztes Mal nur.

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