Croque Monsieur, 13 Euro

Ein junger Mann beschließt, dass sein Seelenleid größer ist als der körperliche Schmerz, wenn seine 75 Kilo Fleisch, Knochen, Sehnen und das bisschen Gehirn von der Schwerkraft zerquetscht werden. Er ist überrascht, weil er so ruhig ist, als er im Halbdunkel des Morgens das Centre Pompidou erklettert.
Straßen werden gesperrt, Sirenen kreischen, diesen Morgen bleiben die Pforten der Raffinerie – wie Pariser das Museum nennen – geschlossen. Hupen schimpfen, der Verkehr staut sich. Ein Zufallstreffer.
Ich bin kein Auto, ich gehe auf zwei Beinen, wenn ich nicht im Rollstuhl sitze oder von Pflegern getragen werde. Ich folge dem Geruch des Todes, wie die Schmeißfliege dem Erbrochenem, und ich bahne mir mit meinem Stock ein Loch durch die Wand der Schaulustigen.

Vor sechs Jahren habe ich gesehen, wie vor meinen Augen Víctor Barriel krepierte. Er war jung und hübsch und die große Hoffnung des Stierkampfs. Das Horn des 500 Kilo schweren Stiers bohrte sich, ohne jede Bosheit, vom Magen aus durch seinen Brustkorb, bis es ein klopfendes Herz erreichte. Nur ein kleiner Ritz und die Schicksale von Matador und Stier waren besiegelt. Ein Jammer, dass die Corrida eine sterbende Kunst ist.

Da steht er, der junge Mann, seine Haare kleben an der Stirn, seine blutrote Krawatte flattert im Wind, er hat einen Schuh verloren und er ruft einen Namen, so laut er kann, doch niemand versteht ihn. Die Polizei oder die Feuerwehr oder die Raffinerie dröhnen Musik auf den Platz. „Orinoco Flow“, „Here Comes the Sun“ und „Don’t give up“ übertönen den Namen der Frau, für die Krawatte da oben auf dem Centrè Pompidou sich aus dem Genpool der Menschheit entfernen will.
Das wird dauern.

Ein richtiges Pariser Strassencafè ist nicht mehr einfach zu finden, Menschen wollen nicht mehr für ihr Coffein leiden. In einem richtigen Pariser Strassencafè dürfen die Stühle nicht bequem sein, auch wenn sie so aussehen. Sie müssen so dicht gestellt sein, dass man unmöglich die Beine ausstrecken kann, aber wiederum nicht so eng, dass Touristen davon abgehalten werden, auf dem Weg zu dem einzigen freien Platz, alle Gäste anzurempeln. Es ist unwichtig, ob das Personal weiblich oder männlich ist, wenn es nur darauf beharrt, keine Silbe Englisch, Spanisch, Deutsch oder meinetwegen Latein zu verstehen.
Ein Cafè au lait ist nur dann zu servieren, wenn er vorher eine Viertelstunde auf der Theke auskühlen durfte – immer in Blickweite des Bestellers, aber doch unerreichbar. Ein Crepe Grand Marnier hingegen wird am Tisch flambiert, so dass Verbrennungen garantiert sind, wenn der heiße Likör aus den Teigfalten in den Mundraum fließt.
Und wie hier, im „Le Parvis“, mit Aussicht auf die Raffinerie, muss ein Cappuccino acht Euro kosten. Ich bestelle Croque Monsieu, dreizehn Euro – so gehört sich das. Man muss sich Genuss erarbeiten, der fünfte Reiter der europäischen Apokalypse heißt „Coffee to Go“.

Neunzig Minuten hat der Polizeipsychologe auf Krawatte eingeredet. Auf dem Place Georges Pompidou wurden in dieser Zeit zehntausend Fotos geknipst und über hundert Videos live gestreamt. Hände wurden entsetzt auf offene Münder geklappt, Tränen auf Papiertaschentüchern und Poloshirts vergossen, Köpfe wurden geschüttelt und in die Mikrofone der Radiosender gesprochen. Alle sind gerührt und voller Sorge und sie hoffen, dass er springt.
Doch Schröders Springer hat dort oben auf dem Museumsbau den Plan der Psychologin durchschaut und balanciert auf den Stahlrohren der Fassade zwei Meter fort von den Polizisten, die ihn beinahe ergriffen hätten; fort von dem Luftkissen, das die Feuerwehr aufgeblasen hat; und aus dem Fokus der Kameras, die die Fernsehsender hier aufgebaut haben.
Fifty-Fifty, würde ich schätzen.

Der Mann, der das Gewicht der Seele gemessen hat, war kein Narr; er hat an alles gedacht. Seine Waage war ein Sterbebett und es konnte auf das Gramm genau wiegen. Duncan MacDougall wusste, welches Gewicht ein Atemzug hat – 2,4 Gramm – und wie viel seine sterbenden Tuberkulosepatienten in ihrer Agonie pro Stunde verschwitzten – 28 Gramm. Dies berücksichtigend ergab die Differenz zwischen Lebend- und Totgewicht zwangsläufig das Gewicht der Seele, welche sich zum Todeszeitpunkt von der Last, einen Körper behausen zu müssen befreit, und in himmlische Gefilde aufsteigt.
Patient eins starb drei Stunden und vierzig Minuten nach Beginn der Messung. Patient zwei benötigte Tage, Patient drei war schon tot, als die Waage noch nicht justiert war. Nach Patient vier, fünf, sechs, sieben und acht war der Mittelwert für das Gewicht der menschlichen Seele festgelegt. 21, 2 Gramm.
Wenn Krawatte springt und auf den Betonplatten verendet, wird sich niemand an die Forschungsarbeit des frommen Doktors aus Massachusetts erinnern. Heute glaubt keiner an das Gewicht einer Seele, kaum jemand an deren Unsterblichkeit. Mit dem Tod endet alles Leben und danach kommt nichts, sagen die Menschen und sie hoffen, dass sie sich irren.

Ich warte seit zwanzig Minuten auf meinen Kaffee. Gut so. Ich schlage die Beine übereinander und lehne mich zurück. An den Nebentisch setzt sich ein Bärtiger und dreht sich eine Zigarette. Als der Bistrotisch voller Tabak gebröselt ist, ruft er dem Kellner, der in die Schürzentasche greift und dem Alten den Bart versengt. Dieser lacht.
Ein Wissender. Wir schauen uns an.
Hundertundsieben sei er, sagt er und er hat alles gesehen. Wie war alles, frage ich. Hart. Was ist ihm am wertvollsten, frage ich. Verkehrsunfälle, sagt er, in dem Moment, als mein Croque Monsieur ankommt, noch vor dem Kaffee, der wohl noch nicht kalt genug ist. Praktisch kein Käse auf der Brotscheibe, die hart ist wie Zwieback. Ich zerkrümele sie und werfe sie den Tauben hin.

Es geht durchaus etwas verloren, wenn man stirbt. Es gibt einen Unterschied zwischen einem Menschen und einer Leiche, jeder kann das fühlen und warum sollte man das nicht Seele nennen?
Vielleicht sind es die Möglichkeiten, die es nicht mehr gibt: Die Kinder, die Krawatte vielleicht mit einer anderen Frau in die Welt setzt und deren blutige Knie, wenn sie das Radfahren erlernen. Die Sorgen, die sich seine Kollegen machen, weil er auf den Betriebsfeiern oft zu viel trinkt oder die Rechnungen, die er der Astrologin zahlt, die selber nicht mehr an die Macht der Sterne glaubt. Vielleicht sind es die Möglichkeiten.
Möglicherweise verlässt dieses ungelebte Leben den Körper, verteilt sich in der Atmosphäre wie Nebel und fährt in die Brennnesseln, die durch den Teer brechen wollen oder in den Froschlaich, der von Touristen im Parc des Buttes-Chaumont in die Böschungen des Sees gerudert wird.
Möglicherweise ist der Unterschied zwischen totem Fleisch und beseeltem Leib aber die Hoffnung. Hoffnung, dieses kleinste und größte Gefühl, zu dem der menschliche Geist fähig ist. Sie ist es, die uns jeden Morgen das Bett verlassen lässt, sie ist der Humus der anderen Gefühle und sie ist es, die uns als Letztes bleibt, bevor wir nichts mehr empfinden können.
Wer weiß? Ich weiß es nicht.

Die Musik verstummt, auf dem Place Georges Pompidou stehen zwei Frauen, Arm in Arm. Die Ältere spricht in ein Megafon, ich verstehe kein Wort. Aber Krawatte versteht. Er steuert auf eine Absperrung zu, drei Polizisten ergreifen ihn und zerren ihn auf’s Dach. Einer der Gaffer klatscht, dann ertönt Applaus, aber als niemand mehr versteht, was es zu bejubeln gibt, leert sich der Platz in drei Minuten. Die Livestreams auf YouTube, Instagram und Periscope brechen ab und tief in ihren tierischen Körpern sind die Zeugen des gescheiterten Selbstmords enttäuscht.

Als die Überreste meines Croq‘ Monsieur aufgepickt scheinen, fliegen die Tauben fort, um woanders Brösel zu finden, denn irgendwo werden sie welche finden, so wie sie bis jetzt immer Futter gefunden haben. Die Ameisen widmen sich den Krümeln, die zu klein waren für Taubenschnäbel, sie wussten, dass es sich lohnte, hier zu suchen.

Das Leben geht weiter, sagen die Leute und die Hoffnung stirbt zuletzt, sagen sie auch. Verkehrsunfälle, sagt der Alte, drückt seine Zigarette aus und geht, ohne zu zahlen.

0 thoughts on “Croque Monsieur, 13 Euro

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert