Mythos Film V: You ain’t heard nothin‘ yet!

Als sich, am Abend des 6. Oktober 1927, bei der Premiere von „The Jazz Singer“, das Schicksals ihres Studios entscheiden sollte, war keiner der vier Brüder Warner anwesend. Obwohl sie ihr Kapital darauf verwettet hatten, dass ihre Tonfilmtechnologie ‚Vitaphone‘ die Stummfilmära beendet und das Studio rettet.

Ton aufzunehmen und abzuspielen war schon vor der Erfindung des Films technisch kein Problem. Es wurde bald versucht, Schauspieler und Schauspielerinnen auf der Leinwand reden und singen zu lassen. Vor ‚Vitaphone‘ gab es ‚Phonofilm‘ und davor ‚Photokinema‘, doch die Ergebnisse rechtfertigten nie den Aufwand.

Edisons Assistent W.K. Laurie Dickenson koppelte den Phonographen an den Kimatographen (Patente: Edison) und synchronisierte so Ton und Film. Der enstandene Schnipsel ist 30 Sekunden lang. Er hat das Studio nie verlassen, niemand hat sich für das Experiment interessiert. Damals, 1884.

„The Jazz Singer“ war nicht der erste Tonfilm, er war nicht einmal der erste ‚Vitaphone‘-Film. Sicher, erst jüngst entwickelte Mikrofon- und Verstärkertechnologie machte es möglich, am Set auch Nebengeräusche und den Raumklang aufnehmen zu können. Aber die Handhabung war hochempfindlich.

Im Projektionsraum mussten bei der Vorführung Filmrollen und Schallplatte fünfzehn Mal auf Sekundenbruchteile genau gleichzeitig gestartet werden. Dazu waren die Plattenspieler mechanisch mit den Projektoren gekoppelt, ein einziger kleiner Fehler hätte die Illusion zerstört und im Fall dieses einen Abends: das Studio ruiniert.

Nach ungefähr 45 Minuten Stummfilm mit klassischen Texttafeln zeigte der Film den Hauptdarsteller in einer Nahaufnahme und plötzlich sprach er ins Kino: „Wait a minute, wait a minute, you ain’t heard nothin‘ yet“. Die Filmkritiker und Kulturschaffenden, die handverlesen zur Premiere geladen waren, stöhnten überrascht – oder erleichtert – auf. Jede der folgenden Musikszenen bekam stürmischen Applaus.
Als aber Al Jolson mit seiner Filmmutter einen improvisierten, lebensnahen Dialog sprach, brach beim Kinopublikum ‚hysterische Begeisterung‘ aus, wie die Kritiker am Tag darauf berichteten.

Eigentlich sollte Al Jolson seine Musiknummer nicht unterbrechen. Doch er nutzte die Gelegenheit, um einen Dialog mit seiner Filmmutter zu improvisieren. Tonfilm nannte man danach nicht „sound film“, alle sprachen von den „talkies“.

Diese eine Szene im Besonderen veränderte das Kino. Die Emotion musste nicht mehr von Mimik und Gestik transportiert werden, die Darstellung wurde lebensnaher, nicht unterbrochen von den Zwangslesepausen für die Texttafeln. Darum ist „The Jazz Singer“ der erste „Talkie“.

Am Ende des Films skandierte das als zynisch bekannte New Yorker Filmpublikum: „Jolson! Jolson! Jolson!“. Das Studio war gerettet. Der Tonfilm war die Zukunft, daran zweifelten nur noch wenige.

Seither herrscht vor der Filmklappe bei jedem Dreh Schweigen.

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