Die Tram zittert vor Anstrengung, als sie auf den regennassen Gleisen bremst. Ich spüre, dass die Räder blockieren und die drei Wägen vorwärts rutschen. Alles um uns klappert im Takt und die Gleise stimmen jaulend ein. Das ist der Gesang der Trambahn. Sie wiederholt ihr Lied von Ankunft und Bleiben und Abschied.
Bis sie an der Station zum Stillstand rumpelt. Der Zugführer betet den Namen der Haltestelle und eine Reihe Anweisungen in Kauderwelsch. Nicht einmal Menschen, die im Abteil entbunden wurden und im Wartehäuschen der Station aufgewachsen sind, könnten ihn verstehen. Er redet nicht zu den Passagieren, er redet mit der Trambahn.
Die Türen öffnen sich, indem sie sich zusammenfalten. Widerwillig klappern sie und zischen. Die Verhaltensanweisungen, die man außen auf die schmalen Fensterchen geklebt hat, verschwinden in den Falten. Durch das Glas sieht man den Kleber auf der Rückseite. Spiegelverkehrt steht da wohl: „Zurückbleiben“ und „Aussteigen lassen.“
Das Trommeln der Regentropfen auf dem kleinen Plexiglasdach an der Haltestelle dringt in unseren Waggon. Die Schallwellen suchen nach Ohren. Du hättest zwei, doch du hörst nichts: Du bist beschäftigt mit Lamentieren.
Ich habe auch zwei. Eines liegt auf deiner Schulter, doch das andere wartet nur auf das Klopfen. Es rutscht in mein Ohr, bis in die Hörschnecke. Dort zupft es vorsichtig an kleinen Härchen, die an Nervenzellen hängen, verkabelt mit meinem Gehirn. So werde ich ein Teil des Regens.
Dein Monolog dringt nicht in meine Hörschnecke.
Weißt du, dass es früher in der Tram Schaffner gab? Menschen in Uniform, die den ganzen Tag durch die Stadt fuhren? Hin und her, auf und ab. Sie hatten einen Apparat um den Bauch geschnallt, in den sie die Münzen fallen ließen, die sich dann selber sortierten. Für meine Kinderaugen war das Zauberei.
Das kannst du nicht wissen. Als du in die Stadt gekommen bist, gab es schon die blauen Fahrkartenentwerter in jedem Waggon. Roboter, denen man Papierstreifen ins Maul schieben muss; dann beißen sie Datum und Uhrzeit hinein und rasseln dabei eifrig mit ihren Zahnrädern.
Tische aus Metall haben sie in der ‚Freiheit‘, deinem Lieblingscafé. Die Wände sind gefliest wie in einem Badezimmer, bis ungefähr Bauchhöhe, darüber sind sie verspiegelt. Keine Poster, keine Kunst, keine „Hat jemand meine Katze gesehen?“-Zettel mit Telefonnummern zum Mitnehmen. Nur Fließen und Spiegel.
Doch, doch: Man sitzt dort und man trifft andere Menschen – man kann das mit Fug und Recht ein Café nennen! Die Besucher flüstern miteinander, aber eigentlich sind sie damit beschäftigt, an ihren Cocktails vorbei einen Blick auf sich selber zu erhaschen. Sitzt der Lippenstift? Hält das Haarspray? Sollte ich den Kaschmirschal anders knoten?
Im „Frauenhofer“ kann man die Tische lesen. Meine Wirtschaft. Seit mehr als hundert Jahren kratzen gelangweilte Besucher Botschaften in die Eiche. Die Decken und Wände waren schon von Pfeifen- und Zigarrenrauch gegerbt, als Zigaretten modern wurden.
Keiner widmet den Ölschinken oder den vergilbten Schießscheiben einen Blick, die neben der Schiefertafel mit den Tagesgerichten hängen. Wenn ab und zu jemand mutig genug ist, das verstimmte Klavier zu benutzen, bekommt er zwischen zwei Stücken Applaus. Immer. Egal, was er oder sie spielt. Gehört sich so.
Hier reden alle durcheinander, man muss die Stimme schon erheben, falls man auf der anderen Seite des Tisches verstanden werden will. Wenn das Bier seine Wirkung tut und man sich zurücklehnt, kann man die Augen schließen und zuhören und träumen, man wäre am Meer. All die wichtigen Meinungen und Standpunkte vereinen sich zu einem einzigen Wogen und Rauschen. Man versteht nichts, und das ist gut so. Denn die Botschaft der Brandung lautet: ‚Wir sind hier. Du bist nicht alleine‘.
Zwei Jahre haben wir unseren Gegensätzen Zeit gelassen, damit sie sich anziehen. So beschreibst du die Kraft, von der du annimmst, dass sie uns verbindet. Wie bei Magneten ist, das, hast du erklärt. Wir sind quasi in einem Feld der elektromagnetischen Wechselwirkung, einer der vier Grundkräfte im Universum, gefangen. Da kann man nichts dagegen machen. Blätter fliegen ja auch nicht in den Himmel, wenn sie sich im Herbst von ihrem Baum lösen, oder?
Ich bin mir da nicht so sicher.
Wir sind nicht wie zwei Magnete, zwei Pole, zwei Quellen für Feldlinien. Du zeigst nicht nach Norden und ich nicht nach Süden. Du suchst keine Gegenkraft, keinen Ausgleich, keine Harmonie, keinen Partner. Es ist wie in der „Freiheit“: Du suchst einen Spiegel. Du liebst das Bild von dir, dass ich dir spiegele. Du bist verliebt, ja. In dich.
Warum man denn überhaupt einen Zug hat, der durch die Stadt fährt, aber an jeder Ampel halten muss und in jedem Stau steckenbleibt, das möchtest du doch bitte einmal wissen. Warum reserviert man dem Geleise, in dem nur Unkraut wuchert, so viel Stadtfläche für ein historisches Artefakt – wenn man doch schöne, neue Fahrbahnen darauf teeren könnte, schimpfst du.
Das Licht im Waggon ist fahl und wenn die Tram anfährt, flackert es und geht ein Blinzeln lang aus. Dann ruckelt mein Kopf an deiner Schulter und ich setze mich auf und ich blicke durch die Regentropfen auf der Scheibe hinaus in die Herbstnacht.
Das Licht im Waggon macht einen halb blind für die Menschen da draußen, die sich Schirme über den Kopf halten und durch die Straßen hasten. Besser sieht man die Autos, die viel zu gelb blinken, aber trotzdem auf uns warten müssen. Wahrscheinlich schimpfen die Menschen hinter den Windschutzscheiben auf die Tram. So wie du.
Im obersten Fenster des Gründerzeithauses, an dem wir vorbeiwackeln, brennt noch Licht. Ich stelle mir vor, dass der Sohn des Trambahnschaffners aus meiner Kindheitserinnerung dort vor dem Fernseher hockt. Sportschau. Oder Tagesthemen. Hinter ihm steht der bullige, alte Kleiderschrank. Auf dem letzten Bügel hängt die Uniform, die seit 1975 niemand mehr getragen hat. Darunter verstaubt der Zauberapparat, der Münzen sortieren kann.
Ich schaue dich an, während du mir die Welt erklärst. Deine Worte sagen gerne „Nein“ und oft „Nicht“ und manchmal „Niemals“ und sie verwandeln sich in Brandung, die an den Haaren meiner Hörschnecke zupft.
Die Botschaft ist: „Ich bin gar nicht hier. Du bist alleine.“
Trotzdem muss ich schmunzeln, als ich meinen Kopf wieder an deine Schulter lege, um wieder den Regen an der nächsten Station klopfen zu hören.
Du weißt so viel, aber du weißt nicht, dass es aus ist.
Zwei Stationen noch, dann werde ich angekommen sein. Wenn die Tür sich zusammengefaltet haben wird, werde ich in den Regen treten. Und dann? Ich werde dem kleinen blauen Zug hinterherschauen. Ich werde in den erleuchteten Waggon schauen, in dem du dann ganz alleine sitzen wirst. Du wirst wahrscheinlich gerade die Desinfektionstücher in deinem Rucksack suchen.
Das Licht wird flackern, dann wirst Du fortruckeln. Aus meinem Leben. Ich glaube nicht, dass ich winken werde. Du musst wissen: Ich liebe dich nicht mehr.
Ich liebe die Tram.
0 thoughts on “Der Gesang der Tram”